Das Universalgenie Leonardo da Vinci hat als forschender Maler wohl als Erster die Einbeziehung des Zufalls, des Flecks und der Abstraktion, in die Malerei beschrieben. Was für den Maler der assoziationsreiche Fleck auf der Wand bedeutet, kann für mich der Anblick der Maserung diverser Hölzer sein – sei es auf einem Streifzug durch eine Tischlerei, die Heimwerkerabteilung eines Baumarkts oder beim Aufheben eines Fundstücks am Strand. Manche Bretter stehen schon länger vergessen in einem Winkel meines Ateliers und lösen erst nach ihrer Wiederentdeckung im richtigen Moment etwas aus. Das Bild ist also noch nicht im Kopf vorhanden und sucht sich eine passende Illustration, sondern entsteht als eher vage Vermutung, die während der Bearbeitung des Holzes und vieler anschließender Druckvorgänge eine konkrete Gestalt erhält – also erst allmählich zu einem Bild wird.
Doch auch das fertige Werk, die abgeschlossene Auflage, bleibt auf gewisse Weise abstrakt und offen für weiteres Kopfkino. So entstand 2017 der Zyklus Das Meer | La Mer | The Sea mit fünfzehn Motiven zu einem Text von Barbara Dickow. Fast alle Holzschnitte waren in kurzer Zeit verkauft; erstaunlicherweise – aus meiner Sicht – bekam die Gewitterstimmung den größten Zuspruch. Dieser Erfolg motivierte mich zu den Seestücken, in denen weitere Meeresstimmungen als Hochformate erscheinen. Die Premiere der einzelnen Motive gab es seit 2018 regelmäßig im ARTclub der Büchergilde, die gesamte Folge zeigte 2020 in einer Einzelausstellung zum ersten Mal das Museum Wilhelm Morgner in Soest. Es freute mich, meine Arbeiten in der Heimatstadt dieses expressionistischen Künstlers zu sehen, der wie viele andere Männer seiner Generation als freiwilliger Soldat im Ersten Weltkrieg ums Leben kam.
Die Seestücke sind keine Holzschnitte im klassischen Sinn: Meine Werkzeuge waren – neben einer Laubsäge aus Kindertagen – hauptsächlich grob gekörnte Schleifpapiere, Drahtbürsten und kleine Fräsköpfe. Meist entwickelte sich das Motiv – Schicht für Schicht – aus einer einzigen Holzplatte, manchmal wurde es auch aus mehreren Stücken mit gegenläufigen Maserungen zusammengesetzt. Wie schon bei der Grafikfolge Das Meer | La Mer | The Sea wurden in acht bis zu zwölf Durchgängen die von Hand angemischten Farben aufgetragen und in fein abgestimmten Nuancen gedruckt. Während dieser Arbeit fiel mir die Sinnlichkeit der bearbeiteten und eingefärbten Hölzer auf, die ich nach Fertigstellung der Auflage dann schließlich zu neuen Collagen zusammenstellte. Die reliefartige Oberfläche und eine gewisse Grobheit des Materials geben diesen Unikaten einen ganz eigenen Charakter.
Anfang Februar 2021 ist die mit einem Farbholzschnitt bedruckte Leinenmappe in der Buchbinderei von Thomas Zwang fertiggestellt worden – sie enthält neben den zehn Motiven ein Titel- und Impressumsblatt sowie einen Übersichtsbogen mit allen Seestücken und den dazugehörigen Titelangaben.
Dieser Text erscheint mit vielen Abbildungen im neuen Werkbuch Seestücke.
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